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Revolution in Berlin?
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Revolution in Berlin? Ein schwuler Bürgermeister für den Berliner LGBTI*-Kiez

ms - 26.01.2023 - 09:00 Uhr

Mitte Februar wählt Berlin neu, sollte es nicht abermals bereits im Vorfeld zu weiteren massiven Pannen kommen. Darauf wetten möchte man als Berliner lieber noch nicht. Es bleibt also spannend in der Hauptstadt, wenn am 12. Februar das Abgeordnetenhaus und die Bezirksverordnetenversammlung nach der Pannenserie im September 2021 erneut gewählt werden soll. Spannend ist diese Wahl aber auch im Speziellen für die LGBTI*-Community, denn zum ersten Mal bewirbt sich ein offen schwuler Mann für das Amt des Bürgermeisters für den Bezirk Tempelhof-Schöneberg, das Epizentrum der LGBTI*-Community. Sein Name: Matthias Steuckardt.

Eine kleine Sensation in Berlin

Es wäre das erste Mal seit über 20 Jahren, dass ein CDU-Politiker in dieses Amt gewählt werden würde – und Steuckardt wäre der erste offen schwule Mann überhaupt in dieser Position. Die jüngsten Umfragen zeigen dabei, dass der 43-Jährige durchaus berechtigte Chancen hat, zu gewinnen. Steuckardt kommt ursprünglich aus einem 250-Seelen-Dorf in Thüringen, ist seit 2002 Mitglied der CDU Berlin und war mehrere Jahre lang auch Landeschef der Lesben und Schwulen in der Union (LSU). Seit 2020 ist er Stadtrat in Berlin, seit 2021 im Bereich Bürgerdienste, Soziales und Senioren. Doch welche Pläne hätte der erste schwule Bezirksbürgermeister für den schwul-lesbischen Kiez in Berlin ganz konkret? Exklusiv beantworte er SCHWULISSIMO einige Fragen. 

Sie sind nicht nur der erste schwule Bürgermeisterkandidat für den Bezirk Tempelhof-Schöneberg, sondern wollen auch für einen echten Wechsel in der Sicherheitspolitik einstehen. Wie sieht diese Sicherheitspolitik aus, was sind Ihre Schwerpunkte für Berlin?

Mein Ziel ist es, den Regenbogenkiez als attraktives Wohnquartier und gleichzeitig als Magneten für Touristen aus der ganzen Welt zu erhalten und fortzuentwickeln. Die Lösung aller Probleme beginnt mit einer ehrlichen und vorurteilsfreien Analyse. Als Bezirksbürgermeister würde ich sofort mit den Gewerbetreibenden und Wirten, Initiativen aus dem Kiez sowie den Anwohnerinnen und Anwohnern Lösungen erarbeiten, die kurz-, mittel- und langfristig umgesetzt werden. Polizei, Ordnungsamt und Rettungsdienste müssen dabei beraten. Die CDU Tempelhof-Schöneberg hat in ihrem Wahlprogramm bereits Lösungsansätze vorgeschlagen: Eine mobile Polizeiwache an einem Standort in der Nähe vom Nollendorfplatz, um dauerhaft Polizei vor Ort zu haben und dadurch auch das subjektive Sicherheitsgefühl zu verbessern. Der Nollendorfplatz selbst muss endlich zu einem Platz mit Aufenthaltsqualität umgebaut werden. Die Beleuchtung muss in dunklen, unübersichtlichen Ecken verbessert werden. Und wir wollen außerdem prüfen, ob der als Kriminalitätsschwerpunkt bekannte Spielplatz im Schöneberger Bermuda-Dreieck mit einem Gebäude bebaut werden kann, um im Herzen des Kiezes Raum für Vereine und Initiativen zu schaffen.

Die Anzahl der Hassverbrechen gegenüber LGBTI*-Menschen ist in der ganzen Bundesrepublik zuletzt massiv angestiegen, besonders in Berlin. Hier gab es eine Zunahme von 21 Prozent binnen eines Jahres, in Zahlen sind das rund 460 offizielle Fälle von LGBTI*-Hasskriminalität. Die Dunkelziffer wird als deutlich höher einschätzt. Warum steigt die Gewalt und der Hass gegenüber LGBTI*-Menschen in Berlin so stark an?

Dank der Pionierarbeit von Projekten wie Maneo ist Berlin bei der Erfassung und Aufarbeitung von Hasskriminalität gegenüber queeren Menschen aus meiner Sicht vergleichsweise gut aufgestellt. Daraus resultiert eine zunehmende Bereitschaft, entsprechende Vorfälle auch zu melden und zur Anzeige zu bringen. Jeder einzelne Vorfall ist einer zu viel und die Aggressivität und der Hass, die durch die Taten zum Ausdruck kommen, sind für mich immer wieder erschreckend. Unsere Gesellschaft neigt derzeit sehr stark zum Polarisieren, eine gesunde Debattenkultur geht verloren, weil viele die eine, richtige Wahrheit für sich gepachtet haben. Das bereitet mir wirklich große Sorgen. Der Hass gegenüber Menschen die “anders“ sind, war wohl immer da und nun sinkt durch eine aggressivere Grundstimmung die Hemmschwelle, Worten oder Gedanken auch Taten folgen zu lassen.

Jeden Tag kommt es in Berlin zu einem Angriff auf LGBTI*-Menschen

Seit der Silvesternacht wird in Berlin auch wieder stark über Gewalt in der Stadt gesprochen und immer schwingen dabei Fragen mit: Wer sind die Täter wirklich? Welchen kulturellen Hintergrund haben sie? Haben wir hier ein Problem in Berlin? Oder bringt eine Diskussion um den kulturellen Background nichts und fördert nur Vorurteile?

Es ist richtig und wichtig, Themen – auch die Probleme durch gescheiterte Integration – offen und ideologiefrei anzusprechen, insbesondere weil rechte Hetzer suggerieren, dass man das in Deutschland nicht mehr dürfe. Nur im offenen Diskurs miteinander können wir die besten Lösungen finden. Gleichzeitig müssen wir als Community aber fest im Blick haben, dass von den Männern aus dem arabischen Raum beispielsweise genauso viele schwul sind wie bei uns, ihnen aufgrund familiärer Zwänge ein Outing aber häufig unmöglich erscheint. Die Situation ist also vergleichbar mit der, wie sie in Deutschland vor zig Jahren oder gar Jahrzehnten war. Es gibt zwar entsprechende Unterstützungsangebote, die Dimension dieses Problems findet aus meiner Sicht bislang aber zu wenig Beachtung in der Community.

In den aktuellen Umfragen liegt die CDU vor der SPD in Berlin, die derzeitigen Prognosen gehen aber teilweise davon aus, dass es in der Summe trotzdem bei einer rot-rot-grünen Regierung bleiben könnte. Sollte es bei einer solchen Regierung in Berlin bleiben, wie schwer ist es dann, als möglicherweise gewählter CDU-Bürgermeister von Tempelhof-Schöneberg politische Akzente zu setzen und eigene Themen umzusetzen?

Als Bezirksstadtrat mache ich regelmäßig die Erfahrung, dass auch die Kolleginnen und Kollegen von SPD, Grünen und selbst die von der Linken über die Unfähigkeit des aktuellen Berliner Senats verärgert sind. Sie dürfen die Kritik aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit jedoch öffentlich nicht äußern. Ein Bezirksbürgermeister der Opposition wäre hingegen frei, die besten Lösungen für seinen Bezirk laut und nachdrücklich einzufordern, könnte also ein wirkliches Sprachrohr der Menschen in seinem Bezirk sein. Die Chancen der CDU Berlin, diese Wahl zu gewinnen und den nächsten Senat anzuführen, schätze ich aber viel höher ein, als Sie es darstellen. Immer wieder kommen Menschen an den Infoständen auf mich zu und sagen: “Diesmal wähle ich CDU, so wie es derzeit in Berlin läuft, darf es einfach nicht weitergehen.“

Mitten im schwulen Kiez: Nollendorfplatz mit Regenbogen-Kuppel während dem CSD Berlin

Sie sagen auch, dass vieles in Berlin und gerade auch im schwul-lesbischen Kiez besser laufen könnte. Wo sehen Sie abseits der Sicherheitsdebatte noch Verbesserungsbedarf?

Die Liste ist lang, in der Verwaltung beispielsweise fehlt es an Personal, Digitalisierung und klaren Strukturen. Besonders wichtig ist mir persönlich aber das Thema “Bildung“, auch wenn ich selbst keine Kinder habe. In der Schule werden wichtige Weichen für den späteren Erfolg oder Misserfolg im Leben gestellt. In Berlin gibt es zu wenig Schulplätze, große Klassen, viel zu wenig ausgebildete Lehrkräfte und Schulgebäude in teilweise erbärmlichem Zustand. Am stärksten davon betroffen sind Schulen in den sogenannten Brennpunkten. Dabei sollte doch jedes Kind die bestmögliche Bildung erhalten – unabhängig von Elternhaus oder Muttersprache. Auch in der queeren Jugendarbeit ist zu wenig geschehen, hier müssen mehr Angebote gemacht werden und es muss mehr Beratung stattfinden.

Während immer mehr Bundesländer wie Hamburg, Thüringen oder Sachsen aber auch Baden-Württemberg derzeit überlegen, das Gendern zu verbieten beziehungsweise dieses schon verboten haben, darf in Berliner Schulzeugnissen ab sofort gegendert werden. Das hat bundesweit zu viel Kritik und Aufregung geführt. Ist für sie als schwuler Kandidat das Gendern sinnvoll oder eher nicht?

Ich persönlich nutze recht konsequent die weibliche und dann die männliche Bezeichnung, also beispielsweise “Lehrerinnen und Lehrer“. Respekt und Wertschätzung kann man durch Sprache zum Ausdruck bringen, dabei sollte aber auch auf die Lesbarkeit und die Verständlichkeit geachtet werden.

In der LGBTI*-Community scheinen einige derzeit mit größerem Interesse als früher auf die CDU zu blicken, auch weil manche queer-politischen Pläne von Rot-Grün teilweise für Unverständnis bei Schwulen und Lesben sorgen. Inzwischen gibt es auch mehrere Vereine, die sich explizit auf die Belange von Homosexuellen konzentrieren wollen. Wie stehen Sie diese Entwicklungen diesen gegenüber?

Das ist eine äußerst spannende Frage. Die Community war in der Vergangenheit durch schwule Männer geprägt, deren Kampf für gleiche Rechte wäre aber niemals so erfolgreich gewesen, wären sie nicht durch starke Frauen an entscheidenden Stellen unterstützt worden. Das habe ich selbst bei den Lesben und Schwulen in der Union sehr oft erlebt. Der LSU gehöre ich seit 2005 an, war zeitweise Regional- und Landesvorsitzender, und es waren immer wieder großartige Frauen, die für uns geworben und mit uns gemeinsam gekämpft haben. Ihnen bin ich für ihren Einsatz besonders dankbar. Dass man nach diesem erfolgreichen eigenen Kampf nun auch andere Gruppen, die bislang weniger Aufmerksamkeit erfahren haben, in den Blick nimmt, das finde ich richtig. Gleichzeitig nehme ich mit großer Sorge ein gewisses Auseinanderdriften der Community wahr. Hinter vorgehaltener Hand äußern auch alteingesessene schwule Projekte die Sorge, dass sie möglicherweise schon bald nicht mehr die Diversity-Anforderungen erfüllen könnten und in der Folge finanzielle Zuwendungen verlieren, oder zumindest ihre Projekte nicht weiter ausbauen und fortentwickeln können. Die Angst vor dem weiteren Verlust von Schutz- und Rückzugsräumen ist mir also durchaus geläufig. Insofern kann ich die Hoffnung auf eine vorurteils- wie ideologiefreie Politik, für die die CDU Berlin steht, sehr gut nachvollziehen.

"In der queeren Jugendarbeit ist zu wenig geschehen!"

Auf Ihrer Homepage schreiben Sie, dass das christliche Menschenbild das Fundament ihres Engagements ist. Beim Wort “christlich“ dürften einige Homosexuelle sowie auch queere Menschen kurz ins Stocken geraten, bedenkt man, dass sich die christliche Kirche, vor allem die römisch-katholische, trotz aller Bemühungen seitens einiger deutscher Bischöfe noch immer gegen LGBTI*-Menschen oder die gleichgeschlechtliche Ehen ausspricht. Wie bringen sie Ihr christliches Fundament mit ihrem Leben als schwuler Mann zusammen?

Die christlichen Grundwerte wie Nächstenliebe oder die Bewahrung der Schöpfung, also respektvoller Umgang auch mit Natur und Tieren, sind mir wichtig und durchaus eine Richtschnur in meinem Leben. Um mich selbst im hektischen Alltag daran zu erinnern, habe ich sehr bewusst ein Kreuz in meinem Büro aufgehängt. Große Transparente und Fahnen mit der Aufschrift “Liebe tut der Seele gut“ hingen im vergangenen Jahr an zahlreichen evangelischen Kirchen und auch an dem großen und bis auf den letzten Platz gefüllten Truck der evangelischen Kirche beim CSD Berlin. Dieses deutliche Statement “meiner“ Kirche hat mich sehr berührt und gleichzeitig weiß ich, wie sehr katholische Christen zuweilen darunter leiden, dass ihre Kirche ihre Liebe nicht anerkennt, teilweise sogar noch immer abwertet.

Sie kommen aus einer Handwerkerfamilie, haben früh durch den Mauerfall den Weg in die CDU gefunden und sind überzeugter Vegetarier. Was sollten Ihre Wähler noch von Ihnen wissen? Was macht Matthias Steuckardt privat? Und gibt es eine “bessere Hälfte“ in Ihrem Leben?

Viel Freizeit bleibt mir nicht, die die mir bleibt, nutze ich aber gern und treffe mich mit Freunden im Regenbogenkiez, der für mich durchaus ein zweites Wohnzimmer ist. Die Deutsche Oper besuche ich hingegen gern allein, insbesondere bei Wagner kann ich ausgezeichnet zur Ruhe kommen. Den Kopf bekomme ich aber am besten frei, wenn ich auf dem Rasenmäher-Traktor im Familiengarten in Thüringen sitze. Diese Auszeiten von der Großstadt sind mir wichtig, sie erden mich. Eine “bessere Hälfte“ gibt es seit ziemlich genau einem Jahr. Traditionell verteilt die CDU am Tag vor der Wahl Rosen, um den Menschen für ihre Unterstützung zu danken und an den Gang ins Wahllokal am Wahlsonntag zu erinnern. Auch ich habe am 25. September 2021, dem Tag vor der jetzt ungültigen Wahl, Rosen an über hundert Passanten verteilt. Einer davon holte sich jetzt gerade – wohl noch im Halbschlaf – einen Kaffee und fühlte sich damals irgendwie von dem freundlichen Mann am CDU-Stand besonders angesprochen.

Vielen Dank für das Gespräch!

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